Steffen Baumgart, der SC Paderborn und der richtige SCP
Mal ein Blick über den Tellerrand. Vor wenigen Tagen teilte der SC Paderborn mit, dass Trainer Steffen Baumgart den Klub zum Saisonende verlassen werde. Er wird dann rund viereinhalb Jahre in Paderborn gearbeitet haben. Sein Abschied war in den vergangenen Wochen und Monaten immer mal wieder ein Thema, aber der nun offizielle Abgang gibt die Gelegenheit, die Entwicklung des Nachbarn zu bewerten.
Der SC Paderborn ist in mancherlei Hinsicht dem SC Preußen Münster sehr ähnlich. Strukturell fühlten sich beide Vereine lange vergleichbar an, beide Städte haben vieles gemeinsam, wenngleich Münster mit 315.000 Einwohnern mehr als doppelt so groß ist (was erstens als kleine Spitze erlaubt sein soll, andererseits aber wegen Münsters „Zersiedelung“ nicht überall sofort sichtbar ist). Klassische Fußballstädte sind beide nicht, hier wie dort kommen die Fans keineswegs automatisch, wenn im Stadion das Flutlicht angeht. Sogar ihre Klubstruktur veränderten beide Vereine im gleichen Jahr: 2018 beschlossen die Mitglieder, aus dem SCP eine GmbH & Co. KGaA zu machen, im gleichen Jahr erledigte das Paderborn ebenso, wobei das Interesse und/oder die Kritik aus Kreisen der Fan weniger spürbar war als hier in Münster, doch das nur am Rande. Und ja, beide Klubs verfügten über eine mehr oder weniger lange Zeit einen Gönner, der die Klubs mit Geld und Einfluss begleitete – hier Wilfried Finke, dort Thomas Bäumer. Finke war Präsident, Bäumer Aufsichtsratsvorsitzender.
Die spannende Zeit umfasst die beiden vergangenen Jahrzehnte seit Anfang der Zweitausender, in denen sich die Klubs trotz aller Ähnlichkeiten sportlich, infrastrukturell und wirtschaftlich deutlich auseinander entwickelten. Kurz und überspitzt gesagt: Münster stagnierte, Paderborn blühte auf.
Ein paar Worte zur Geschichte seien gesagt: Natürlich verfügt der SCP aus seiner Geschichte über erheblich mehr „messbare“ Tradition als der Nachbar aus Ostwestfalen: Bis zum Beginn der Achtzigerjahre war Münster nur hochklassig in der höchsten oder zweithöchsten Spielklasse unterwegs. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga, war in den Fünfzigern mal Deutscher Vizemeister, aber das ist heute ein Pfund, das mehr in den Klub hineinwirkt und sein Selbstverständnis prägt, als dass der SCP sich davon etwas kaufen könnte.
Während der SC Preußen sich wie selbstverständlich über Jahrzehnte mit BVB, Schalke, Köln oder Leverkusen maß, existierte der SC Paderborn noch gar nicht. Die schräge Gemeinsamkeit ist, dass beide Klubs einst als „FC Preußen“ gegründet wurden, der eine allerdings 1906, der andere eben 1907.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Adler in der (erstklassigen) Oberliga West unterwegs, in Paderborn musste man sich überhaupt erst sortieren. Die Zahl der Vorgänger- und Fusionsklubs des heutigen SCP07 bekommen wohl nur die Hardcore-Fans noch auf die Reihe. Als TuS Schloß Neuhaus bzw. TuS Paderborn-Neuhaus dürften viele Preußen den Klub aber aus den Achtzigerjahren kennen. Münster rückte von oben runter: Weil sich der SC Preußen 1981 nicht für die eingleisige 2. Bundesliga qualifizierte, musste er in der Oberliga Westfalen starten, wo eben jene Paderborner warteten. Fun Fact: In eben dieser (noch neuen) Oberliga war Paderborn gerade Meister geworden, doch wie die Preußen litt auch Paderborn unter dieser Ligareform: Als Meister durfte er nicht aufsteigen … (was den Preußen wiederum 2008 selbst auch geschah).
Also: Die gemeinsame Zeit der Paderborner und Münsteraner begann 1981 und dauerte mit einer erheblichen Unterbrechung bis 2018, wobei die „Unterbrechung“ von etwa 12 Jahren viel mit diesem Text zu tun hat. Die erste kleine Trennung dauerte nur ein Jahr, soll aber nicht unterschlagen werden: Der TuS stieg 1982 etwas überraschend in die 2. Bundesliga auf, stieg aber weniger überraschend als Letzter 1983 wieder ab. Münsters zwei Zweitliga-Jahre zwischen 1989 und 1991 brachten auch keine erhebliche Veränderung.
Herablassung aus Münster
Zur Geschichte gehört auch, dass Preußenfans gern herablassend Richtung Paderborn schauten. Und warum auch nicht? Der Klub besaß kaum Fans, kickte im alten Hermann-Löns-Stadion, war bundesweit eigentlich nie in Erscheinung getreten. Der ganze Klub fühlte sich wie ein ewiger Amateurverein an (und sah auch so aus). Vom Profi-Fußball war der Fusionsklub wirklich weit entfernt, als sich die Wege beider Vereine erstmals wirklich kreuzten. Gut, die billigen Holzplanken auf der einzigen Tribüne hatte Paderborn mit dem SC Preußen auch gemeinsam.
Zu Oberliga- und Regionalligazeiten tingelten beide Klubs mehr oder weniger ungestört durchs Mittelfeld. Mal etwas besser, mal etwas weiter unten. Münster erspielte sich nach dem Zweitliga-Abstieg 1991 noch zwei Drittliga-Meisterschaften, scheiterte aber in der Aufstiegsrunde, Paderborn machte es 1994 ebenso.
In Paderborn lässt sich der Moment, in dem der nun zum SC Paderborn 07 umbenannte Klub den SC Preußen nicht nur überholte, sondern seitdem mehr oder minder deutlich auf Abstand hielt, exakt benennen. Es war Mai 2003, als in Paderborn der Bau eines neuen Stadions beschlossen wurde. Der absurde Rechtsstreit um den Bebauungsplan, der 2005 für eine zweijährige Baupause sorgte, sei nur am Rande erwähnt; Münster kämpft hier bekanntlich gegen seine eigenen Dämonen.
Doch die damalige Paragon-Arena, ein bisschen am Rande der Stadt auf der grünen Wiese, aber klug neben der Autobahn gelegen, war für Paderborn im Rückblick der Glücksgriff. Eine Arena, über die Fans deutschlandweit spotten, die aber völlig unterschätzt ist und perfekt auf den SC Paderborn zugeschnitten wurde. Mit 15.000 Zuschauern (wobei es aktuell auch trotz ein paar zusätzlicher Reihen im Oberrang bleibt) ist das Fassungsvermögen auf Stadt und Klub abgestimmt, zu eng wurde es seit der Eröffnung 2008 nur in einer Handvoll Spielen. Nicht einmal zu Bundesligazeiten war das Stadion regelmäßig ausverkauft, aber wer drin ist, wird mit einer glänzenden Sicht aus jedem Bereich belohnt.
Das Stadion setzte in Paderborn alles in Gang. Erst stiegen die Zuschauerzahlen, dann die Erlöse durch bessere Plätze und Vermarktungsmöglichkeiten, das investierte der SC Paderborn auch noch halbwegs klug in Spieler.
Paderborner Vorleistung
Sportlich war Paderborn in Vorleistung gegangen. Mit dem neuen Stadion vor Augen stieg das Team von Pavel Dotchev 2005 als Tabellenzweiter, aber punktgleich mit Braunschweig, in die 2. Bundesliga auf. Von diesem Moment an trennten sich die Wege. Münster schloss die Saison unbeachtet im Mittelfeld ab, zwischen Holstein Kiel und dem 1. FC Köln II.
Das letzte Ligaspiel in Münster fand vor rund 3.500 Fans in Münster statt, Paderborn brachte am 36. Spieltag sicher rund 600 Fans mit in den Gästeblock, was damals mehr als außergewöhnlich war. Am Ende eines spektakulären Spiels traf Paderborn in der 90. Minute zum 3:2, doch Carsten Gockel glich nach 91 Minuten zum 3:3-Endstand aus. Das reichte Paderborn trotzdem zur Tabellenführung. (Den Aufstieg sicherte sich der SCP07 aber erst am letzten Spieltag mit einem 4:0 beim VfL Wolfsburg II.) Im Gästeblock hing ein großes Banner: „Nie wieder Preuxxen“ (siehe Foto).
Der Aufstieg veränderte in Paderborn alles. Ja, der erste Profi-Ausflug des SC Paderborn währte nur zwei Jahre, ehe der Klub kurz in die neu gegründete 3. Liga abstieg. Doch diese erste Drittliga-Saison startete der Klub endlich im neuen Stadion – und kehrte sofort in die 2. Bundesliga zurück. Münster feierte 2008 seine Oberliga-Meisterschaft, durfte aber wegen eben dieser Ligareform, zu der die neue 3. Liga gehörte, nicht aufsteigen.
Paderborn begann seine Strukturen mehr und mehr auf den Profifußball auszurichten. Schrittweise veränderte sich der Klub und auch die Infrastruktur. 2016 eröffnete der SC Paderborn sein nagelneues Nachwuchsleistungszentrum und schaffte sich damit die erforderlichen Trainingsbedingungen.
Natürlich gab es in Ostwestfalen auch eine Lernkurve. Manchem (Trainer)-Fehlgriff folgten aber auch gute Ideen. Effenberg, Emmerling, Gellhaus waren keine guten Ideen, Roger Schmidt schon eher, ganz sicher aber André Breitenreiter – unter ihm stieg Paderborn erstmals in seiner Geschichte 2014 in die erste Liga auf! Ein Kulturschock für die Liga und für viele fassungslose „Marktbegleiter“, die Paderborns Aufstieg kaum fassen konnten. Vermutlich fasste es der Klub selbst nicht. Münster lief zeitgleich in der 3. Liga mit gewaltigem Abstand auf die beiden Überflieger Heidenheim und RB Leipzig auf Platz 6 ein – so gut war der SCP seitdem nie wieder in der Tabelle, was die Stagnation und letztlich den Absturz deutlich sichtbar macht.
Wie auch immer: Erst in der Bundesliga zeigten sich in Paderborn die strukturellen Nachteile. Was auch immer der Sport zu leisten vermochte – das Stadion und auch die Zuschauerzahlen reichten damals (und wohl auch heute) nicht, um ein starkes Fundament zu schaffen. Mit 15.000 Zuschauern wäre das Stadion wohl dauerhaft zu klein – selbst Freiburgs alte Kiste fasste 9.000 Fans mehr. Und mit einem Schnitt von 14.300 Fans wurde das Stadion in dieser ersten Bundesliga-Saison oft nicht voll. Das wurde in der zweiten Bundesliga-Saison 2019/2020 sogar noch schlimmer. In den Spielen mit Zuschauern sank der Schnitt sogar auf 13.700. Natürlich trugen in der Rückrunde die Partien ohne Fans dazu bei, die zwei potentiell ausverkauften Spiele gegen den BVB oder Mönchengladbach hätten den Schnitt noch etwas nach oben gezogen. Aber der Trend ist schon zu sehen: Das Einzugsgebiet des SC Paderborn war und ist noch immer eng begrenzt. Aber absolut betrachtet sind das natürlich Welten verglichen mit dem alten TuS Schloß Neuhaus oder den Paderborner Zeiten in der Drittklassigkeit. Dass Münster sich hier anders darstellen würde, ist eine oft formulierte Unterstellung, die auf absehbare Zeit nicht zu beweisen ist.
Glücksgriff Baumgart
Für Paderborn wichtig war Steffen Baumgart, der vom Typ her einfach gut nach Ostwestfalen passte, was hier als Lob zu verstehen sein sollte. Baumgarts sachliche, aber leidenschaftliche Arbeit – gemeinsam mit Markus Krösche in der sportlichen Leitung – sorgte für einen zweiten Aufschwung.
Das erste Bundesliga-Jahr endete in Tränen, obschon der Klassenerhalt bis fast zum Saisonende möglich war. Doch dann stieg Paderborn ab und erlebte seine vermutlich schlimmsten zwei Jahre. Aus der 2. Bundesliga wurde der Klub 2016 durchgereicht. Zwar konnte Baumgart, gerade im April 2017 als neuer Trainer vorgestellt, nicht verhindern, dass Paderborn am letzten Spieltag auf einem Abstiegsplatz landete. Wer weiß, was aus dem Klub geworden wäre, hätte er zurück in die Viertklassigkeit gemusst hätte? Doch weil der TSV 1860 München keine Lizenz für die 3. Liga erhielt, durfte Paderborn drinbleiben. Das Abstiegs-Triple war verhindert …
Baumgarts Verpflichtung folgte nur kurz auf die Installation von Markus Krösche als neuem Sportlichen Leiter, die Trainerwahl war sozusagen Krösches erste Amtshandlung. Auch dies ein Glücksgriff für Paderborn.
Dem Absturz folgte aber unter Baumgart eine bemerkenswerte Neuerfindung. Erst sicherte sich Paderborn Platz 2 in der Drittliga-Saison 2017/2018, marschierte dank Platz 2 in der 2. Bundesliga direkt durch in die Bundesliga! Zwischenzeitlich war in Münster mal zu hören, dass Paderborns Absturz in die 3. Liga doch nur zeige, dass „die anderen“ eben doch nicht dauerhaft besser seien. Ähnlich klang das auch bei Osnabrück oder Bielefeld, als die noch in der 3. Liga spielten. Doch in Wahrheit zeigten alle drei Klubs, warum sie strukturell und sportlich viel weiter sind als der stagnierende SCP, denn alle drei bewegen sich längst wieder im Profifußball (ja, auch wenn Osnabrück der Abstieg droht und Bielefeld in der Bundesliga kämpft). Doch für alle drei Klubs ist der Profifußball viel näher als für den SC Preußen, dessen letzte Zeiten in der 2. Bundesliga mittlerweile 30 Jahre zurückliegen. Und in praktisch allen Belangen hat der SCP seitdem den Anschluss verloren. Ein Problem, das erst durch die jüngsten Stadionentscheidungen vielleicht gelöst werden könnte.
Es sei nur am Rande erwähnt: Paderborns letztes Bundesliga-Spiel endete im Juni 2020 in Frankfurt mit einer 2:3-Niederlage. Bemerkenswert ist, dass Paderborn dort vier Spieler aufbot, die im März 2018 im bis heute letzten Duell in Münster gespielt hatten (wer sich erinnern mag: Es war das Spiel, in dem Adriano Grimaldi einen kapitalen Fehlpass von Leopold Zingerle direkt zum 1:0 ins Tor lenkte. Paderborn glich später noch zum 1:1 aus.)
Nach dem zweiten Bundesliga-Abstieg muss Paderborn sich neu aufstellen. Das Jahr 2020/2021 darf als Übergangsjahr durchgehen, aber auf Platz 9 der 2. Bundesliga steht der SC Paderborn auch sicher da. Nach oben und unten geht nichts, die Saison fing gut an, nach acht Spieltagen stand der SCP07 auch mal auf Platz 3, doch dann rutschte das Team ins Mittelfeld ab. Nach Baumgarts Abschieds-Ankündigung ist jetzt wohl die Luft raus.
Für die kommende Saison stellen sich Aufgaben. Die sportliche Leitung hat Fabian Wohlgemuth im April 2020 vom Ex-Preußen Martin Przondziono übernommen. Jetzt muss ein neuer Trainer her – und beide müssen das Team für die Saison 2021/2022 neu aufstellen. Der Klub will diese Personalie in Ruhe klären. Zuletzt sagte Wohlgemuth dem Westfalenblatt, dass es nicht einmal sicher sei, ob Paderborn den Namen eines neuen Trainers veröffentlichen werde, solange die aktuelle Saison noch läuft. Mal schauen.
Trotz Höhen und Tiefen: Der Klub, der einst in Münster belächelt wurde, hat den SC Preußen abgehängt. Die gute Nachricht ist, dass sich die Lage beim SC Preußen Münster auch so anfühlt, als sei der Klub nun auf einem Weg. Schon unter Malte Metzelder wurden Pflöcke in Sachen Nachwuchs und Struktur eingeschlagen, Nachfolger Peter Niemeyer legt ein großes Augenmerk darauf. Vieles, wenn nicht alles, hängt vom leidigen Stadion-Thema ab. Im Sommer soll endlich die Ausschreibung Ergebnisse bringen, dann könnte der weitere Weg in Richtung Stadionumbau gegangen werden. In Paderborn schaffte man den sportlichen Erfolg unter widrigen Umständen, in Münster ist das bisher nicht gelungen, auch weil die Ausgliederung zwar wirtschaftlich überlebenswichtig war, jedoch sonst kaum die Hoffnungen erfüllt hat, die damit verbunden waren. Hier soll die Aussicht auf ein neues Stadion die Fantasie beflügeln – mit dem geplanten Umbau würde der SCP die große Lücke zur Konkurrenz zumindest verringern. Der Blick nach Paderborn darf den Preußen immerhin Mut machen.